Wir müssen Suizidprävention stärken und vor Druck schützen

Gerade nach dieser Rede muss ich sagen, dass es mir noch nie so schwergefallen ist, eine Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts wie diese zu akzeptieren.

Ich will es begründen: Sie zwingt mich, an einer Regelung mitzuwirken, die ich aus Gewissensgründen grundsätzlich ablehnen muss. Nicht, dass ich es nicht verstehen kann, wenn Menschen sich das Leben nehmen wollen – ich schließe übrigens auch für mich nicht aus, dass ich jemals in eine solche Situation kommen könnte, aber ich möchte einfach nicht, dass es eine Regelung gibt, die die Beihilfe zur Selbsttötung sozusagen als therapeutische Alternative sieht. Das möchte ich verhindern.

Meine Damen und Herren, die meisten Menschen, die sich selbst töten, sind depressiv, alt oder behindert, chronisch krank, pflegebedürftig, verwitwet, arbeitslos oder einsam. Die Suizidforschung weist darauf hin, dass hinter vielen Suizidversuchen eine psychische Erkrankung oder soziale Probleme stehen. Die wenigsten Menschen, die nach einem Suizidversuch professionelle Hilfe erhalten, unternehmen jemals wieder einen Suizidversuch.

Wir beobachten, dass sich die Debatte um die Beihilfe zur Selbsttötung verschärft hat, seit unsere Gesellschaft älter wird. Wir führen sie auch vor dem Hintergrund, dass wir überall über Pflegenotstand, über Pflegende und fehlende Hilfe, insbesondere in Einrichtungen, reden. Die Entscheidung von Menschen, die in Einrichtungen gepflegt werden müssen, kann sehr wohl durch die Umstände in einer Einrichtung beeinflusst werden.

Wenn es ein gesetzlich garantiertes Recht auf assistierten Suizid gibt, dann ist auch klar, dass nicht mehr das Schicksal dafür verantwortlich ist, wenn ich als kranker, alter oder pflegebedürftiger Mensch die Gesellschaft, insbesondere auch meine Verwandten, belaste, sondern dass ich es selber bin, der sie belastet. Wenn assistierter Suizid gesellschaftlich einmal akzeptiert wird, dann trage ich schließlich die Verantwortung dafür, dass ich weiterlebe, die Ressourcen der Allgemeinheit in Anspruch nehmen will und – was wahrscheinlich viel entscheidender ist – meinen Angehörigen zur Last falle. Selbst wenn das objektiv nicht stimmt, reicht allein schon das Empfinden, anderen zur Last zu fallen, um sich moralisch verpflichtet zu fühlen, sich für den Suizid zu entscheiden.

Das, meine Damen und Herren, ist keine Spekulation, sondern die Erfahrung aus Ländern, in denen der ärztlich assistierte Suizid schon länger legal praktiziert wird. Aus dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts geht hervor, dass in Oregon, wo es eine solche Regelung schon seit über 20 Jahren gibt, 54 Prozent derjenigen, die sich unter ärztlicher Assistenz das Leben genommen haben, angegeben haben, dass sie Sorge haben, ihrer Familie, Freunden, Pflegenden zur Last zu fallen; so sagt es zumindest der offizielle Jahresbericht zu Oregon aus dem Jahr 2021. Das war dem Bundesverfassungsgericht bekannt. Und es trifft eben die sozial Schwachen. In Oregon handelte es sich in 80 Prozent der Fälle von assistiertem Suizid um Menschen, die nur die Mindestkrankenversorgung wie Medicaid und Medicare hatten. 2008 waren es unter 10 Prozent. Das zeigt den Trend.

Dieser gesellschaftliche Druck greift möglicherweise auch auf andere über.

In dieser Diskussion ist es wichtig, sich bewusst zu sein, dass dieser gesellschaftliche Druck möglicherweise auch auf andere übergreift. Wir haben eben die Diskussion über Menschen mit Demenz geführt. Was ist eigentlich mit Menschen mit Behinderung, die bereits ab Geburt als nicht einwilligungsfähig gelten? Haben die auch ein Recht auf Selbsttötung? Wie wird das umgesetzt? Und wie sieht es aus: Werden wir diese hauchdünne Unterscheidung zwischen der Tötung auf Verlangen und der Beihilfe zur Selbsttötung wirklich beibehalten können? Wie will ich jemandem erklären, dass er zwar das Recht auf Selbsttötung hat, aber dass ihm, wenn er nicht in der Lage ist, das Glas zu nehmen, kein anderer dieses Glas geben kann.

Ich komme zum Schluss. Ich hoffe, dass wir wenigstens zu einer Regelung kommen, die die Suizidprävention stärkt und die die Schwachen vor vermeintlichem Druck schützt.
Vielen Dank.

Rede im Deutschen Bundestag am 18.05.2022 zum TOP 3 „Vereinbarte Debatte zum Thema Sterbehilfe“

Foto: Deutscher Bundestag

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